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15.09.2012:
Kleine Flasche, große Wirkung

Diese Lebensgeschichte ging mir nahe. Eine junge Frau stand am Rednerpult und begann: "Ich heiße Anja und ich bin Alkoholiker!" Herzlich antworteten die zahlreichen Gäste: "Guten Tag, Anja!" Mit fester Stimme rollte Anja ihr Leben vor uns aus. Wie sie sich schon als junges Mädchen aus der Welt beamte. Denn keiner bemerkte sie. Ihre Person. Immer stand sie am Rand. Nicht allein, aber immer am Rand. Ein Gefühl, das ihr sagte: "Ich bin nichts, ich kann nichts." Dann lernte sie mit fünfzehn A kennen. Bereits nach der ersten Flasche Bier sah die Welt anders aus. A wurde ihr liebster Begleiter. Er sorgte schon am frühen Morgen dafür, dass sie sich nicht mehr einsam fühlte. Die Schulnoten gingen in den Keller. Aber das war ihr egal, gut abgefedert durch A. Die Familie verzweifelte, weil sie auf nichts hörte, weil sie nichts in ihrem Verhalten änderte. Alles war unwichtig. Nur A zählte, und dass er immer bei ihr war. Wenn der erste Kasten Bier leer war, dann war auch sie alle. Sie schlief ein bisschen und dann kam der nächste Kasten dran.
Anja stand am Rednerpult. Nur kurz unterbrach sie, um sich die Tränen abzuwischen, als sie vom totalen Absturz berichtet. Aber nur kurz. "Auch Tränen gehören dazu, ich mache jetzt weiter." Und fuhr fort mit ihrer Geschichte. Ihre Stimme wird fester. Nach dem Entzug kommt sie zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker. "Das war meine Rettung. Um trocken zu bleiben. Alleine hätte ich das nie geschafft. Zum ersten Mal hörte mir jemand zu. Ich durfte zu Ende sprechen, egal, wie lange ich brauchte. Ich durfte schweigen und nach Worten suchen. Alle warteten. Sie warteten so lange, bis ich fertig war. Ich konnte das Ende bestimmen. Das kannte ich nicht. Zum ersten Mal war ich jemand, der so wertvoll war, dass man ihm voll Geduld zuhörte. Niemand verurteilte oder hetzte mich."
Ich sah mich um. Wer hatte sich hier eingefunden? Kein außergewöhnliches Gesicht, keine anders aussehende Person. Ich hätte auf jeder beliebigen Veranstaltung sein können. Hier saßen ganz normale Menschen. Nur eines war anders. Sie wirkten nicht gleichgültig. Schon ihr Blick war wach und spiegelte Geistesgegenwart. Die Gesichter zeigten Kontur und beim Zuhören Interesse und tiefe Anteilnahme. Ich war bei den Anonymen Alkoholikern und der Gruppe Al-Non, in der sich die Angehörigen von Alkoholikern treffen.

Ich wollte nicht aufstehen, um ein neues Glas Sprudel zu holen. Das hätte gestört. Aber ich ahnte nicht, welche Wirkung meine kleine Mineralwasserflasche auslöste. Als ich sie aus der Tasche zog, verfolgten viele wachsame Blicke mein Tun. Wie ich mein Glas füllte, die Flasche zuschraubte und wieder einsteckte. Was haben sie wohl gedacht? Glaubten sie mir das Mineralwasser? Vermutlich haben mich Block und Stift gerettet … ja, aber vor was eigentlich?