07.02.2011:
Zwar vorbei, aber zum Vormerken
"Wenn Sie den Film unbedingt sehen wollen, schauen Sie am besten heute Nacht um drei Uhr auf die Website des Max Ophüls Festivals. Da werden dann manchmal noch ein paar Karten frei," bekommt mein Vordermann in der langen Schlange vor der Saarbrücker Kinokasse gesagt.
Wenn ich nicht akkreditiert wäre und auf ein Kontingent mit reservierten Karten zurück greifen dürfte, wäre auch ich kurz vor Beginn des Festivals wohl für viele Filme schon zu spät. Es erfreut sich eines wachsenden Rufs, dieses Festival. Von Januar zu Januar bricht es die Rekorde des Vorjahres - in Zuschauerzahlen (39.700 in diesem Jahr) und Wettbewerbsbeiträgen - und ist so zum "Muss" geworden für die Abgänger der Filmakademien in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Niveau der Filme steigt beständig, auch wenn das längst gar nicht mehr möglich zu sein scheint.
Ganz Saarbrücken feiert mit - in den Kinos, Hotels und Restaurants, im Saarländischen Rundfunk. Kaum ein Geschäft, kaum eine Tischdekoration, kaum eine Schaufensterauslage, die nicht blau-weiß ausgestattet ist, in den Farben des Festivals und mit dem Symbol des Herzens in tausend Varianten. Seit mittlerweile 32 Jahren steht das Herz fürs MOP, wie die Saarbrücker das Filmfest liebevoll nennen. Die ganze Stadt ist Kino.
16 Kurz- und 16 Langfilme laufen im Wettbewerb neben einer wachsenden Anzahl an Dokumentarfilmen vor fünf verschiedenen Jurys. Daneben außerhalb des Wettbewerbs mittellange Filme, internationale Kurzfilmreihen, Premieren und Retrospektiven.
Eine Woche Kino - das klingt wie Urlaub! Aber bereits am zweiten Tag, nach sechs Kurz- und sechs Langfilmen wird die physische, seelische und geistige Aufnahmefähigkeit auf eine harte Probe gestellt. Rücken und Nacken formen sich langsam zum Fragezeichen - so bequem die Kinosessel auch sein mögen - zwölf Stunden Leinwand machen die Augen müde, zwölf Stunden Sprache und Musik lassen die Ohren empfindlich werden, sechs Menschenschicksale in Kurz- und sechs Menschenschicksale in Langform legen sich Schicht für Schicht auf die Seele. Und zu denken geben die anspruchsvollen Filmsujets allemal!
Aber es lohnt sich! Es sind intensive Geschichten, die die Filmemacher da erzählen, Drehbuchautoren, Regisseure, Kameraleute und Schauspieler. Sie schauen ungewöhnlich genau hin, auf das, worauf unser Blick eher selten fällt: auf gesellschaftliche und individuelle Randschicksale. Auch wenn ihr Blick ein genauer ist, so ist er nie sezierend, sondern immer von Verständnis geprägt, (vor)urteilsfrei und ohne Schuldzuweisung. Selbst der Versuchung, den Staat oder seine Institutionen billig und pauschal als die Schuldigen auszumachen, erliegen diese jungen Filmemacher nicht.
Dagegen erzählen sie so nah am Geschehen, häufig fast dokumentarisch, dass selbst diejenigen Verhaltensweisen nachvollziehbar werden, die wir in unseren herkömmlichen Vorstellungen moralisch schlicht ausschließen würden. Handlungsverläufe, in denen illegale Einwanderer, jugendlliche Delinquenten, blutjunge Mütter und andere Hauptfiguren den tatsächlichen oder vermeintlichen Zwängen ihres Schicksals erliegen, schildern die Filmemacher in einer solchen Schlüssigkeit, dass der Zuschauer gar nicht erst in Versuchung kommt, den inneren Zeigefinger zu heben.
"Der Albaner", Max Ophüls Preisträger 2011, ist ein solcher Film, in dem der Protagonist in die Mühlen archaischer Traditionen und kapitalistischer Auswüchse zwischen Aus- und Einwanderungsland gerät.
Oder "Abgebrannt", der den Drehbuchpreis des Saarländischen Rundfunks und des ZDF gewonnen hat. "Der Brand", "Zwischen Himmel und Erde", schon die Titel lassen ahnen, dass sich kein leicht konsumierbarer Stoff hinter ihnen verbirgt.
Dennoch kommt auch der Humor nicht zu kurz. "Stationspiraten" hat den Preis der Schülerjury gewonnen und ist einer der ausgesprochen starken Schweizer Filme, die am diesjährigen Festival teilgenommen haben. Hier gelingt es dem Regisseur Michael Schaerer in heiterem und dennoch nicht verharmlosenden Grundton von fünf Jugendlichen auf einer Krebsstation zu erzählen.
Oder "Der Sandmann", der den Publikumspreis gewonnen hat, ebenfalls ein Schweizer Film, in dem Regisseur Peter Luisi die irrwitzige Geschichte von Benno erzählt, der sowohl nachts im Schlaf als auch immer dann, wenn er nicht die Wahrheit spricht, Sand verliert und sich so nach und nach auflöst. Zum Brüllen komisch und hintersinnig zugleich, hangelt sich Luisi an seinem geschickt inszenierten Gleichnis für unseren modernen Umgang mit Zeit, Wahrheit und Liebe entlang. Verzweifelt um Wahrheit bemüht, damit er sich nicht weiter in Sand auflöst, sagt Benno - atemberaubend dargestellt von Fabian Krüger - zu seiner Freundin: "Ich mag an dir, was du in mir an Gefühlen auslöst, aber ich liebe nicht DICH."
Keine Anstrengung scheint den Filmschaffenden zu groß, um auf die Leinwand zu bringen, was ihnen zum Anliegen geworden ist: Weite Reisen mit Mensch und Technik in geografisch und gesellschaftlich entlegenste Gebiete, nicht selten unter Gefahr für Leib und Leben, finanzielle Entbehrungen und Wagnisse sowieso!
Kaum auszudenken, was es bedeutet haben muss für Schauspieler und Kameraleute, für Filmset und Technik, einen ganzen Film in Bergen von Sand zu drehen, wie bei "Der Sandmann"! Gut vorstellbar, was es für die Filmemacher bedeutet haben muss, Wochen und Monate zu recherchieren auf Kinderkrebsstationen, unter Rechtsradikalen, Vergewaltigungsopfern, Gefängnisinsassen, Exilanten und in all den anderen Randgebieten, in die sie sich mutig begeben haben, um unseren Blick zu schärfen für all das, was ganz nah neben uns geschieht, ohne dass wir es bemerken.