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28.02.2011:
Frühlingsboten

Heute ist ein besonderer Tag. Ein grauer Nebelmorgen mit Tendenz zur Lichtung - aber bis zum hellen Sonnenschein ist der Weg noch weit. Genau die Stimmung, um Thomas Geschichte zu lesen:
<< CHARLIES GROSSE FAHRT
- 1 -
Als der Postbote ankam, war Charlie gerade dabei, etwas Holz für den Abend zu hacken. Sein Hund Slim begrüßte ihn ausgelassen. Charlie nahm einen Brief entgegen, nickte dem Postboten zu und ging ins Haus.
Als er Feuer gemacht hatte, setzte er sich an den Tisch. Er stopfte seine Pfeife, riss ein Streichholz an. Schon recht kühl geworden draußen, dachte er paffend. Dann öffnete er den Umschlag.
Charlie erhielt selten Briefe. Wenn, dann waren es zumeist Schreiben, die Werbung für dieses oder jenes enthielten. Dieses Mal jedoch war es anders. Es handelte sich um ein Dokument, welches eine Anwältin aus der Stadt aufgesetzt hatte. Charlie wurde darin gebeten, am morgigen Nachmittag zu ihrer Kanzlei in der Stadt zu kommen, wo ein Testament eröffnet werden sollte. Es handelte sich um den Nachlass seines verstorbenen Bruders Hans.
„Hmm, morgen schon“, brummelte Charlie und kratzte sich am Bart.
Er holte einen alten Schuhkarton unter dem Bett hervor, nahm eine handvoll Fotografien heraus, die er darin aufbewahrte. Erinnerungen in schwarz-weiß.
Später begutachtete er seinen grauen Anzug, der angestaubt im Kleiderschrank hing. Charlie wusste schon gar nicht mehr genau, wann er diesen das letzte Mal getragen hatte. So klopfte er ihn so gut es eben ging zurecht und hängte ihn zum Lüften vor die Tür. Dann legte er sich ins Bett. Ein schläfriger Slim erwartete ihn bereits.
Als der Wasserkessel am anderen Morgen auf dem Ofen gepfiffen hatte, goss sich Charlie, der bereits in grauen Anzugshosen steckte, eine Tasse Kaffee auf. Slim strolchte derweil durch die Felder, wo er irgendwo sein morgendliches Geschäft verrichtete.
Es war noch gar nicht richtig hell draußen. Charlie fror ein wenig. Wahrscheinlich kam das von einem Rest Müdigkeit, der noch in seinen Knochen steckte. So früh war er schon lange nicht mehr aufgestanden. Aber er wollte ganz in Ruhe seine Vorbereitungen treffen und dann zum Bahnhof gehen, um den Zug zu nehmen, der in die Stadt fuhr. Während er den Kaffee schlürfte, beobachtete er durch das Fenster, wie Slim draußen herum schnüffelte.
Charlie ging ins Badezimmer. Er betrachtete sein Gesicht im Spiegel, sah seinen Bart, sein struppiges Haar. Wie lange war er schon nicht mehr bei einem Friseur gewesen?
Kurz entschlossen nahm er eine Schere und schnitt zuerst den Bart, dann die langen Haare ab. Er pinselte Rasierschaum auf Wangen und Hals und kratzte die verbliebenen Stoppeln aus seinem Gesicht, bis dieses glatt und ebenmäßig aussah. Die gestutzten Kopfhaare bearbeitete er mit Pomade.
Jetzt zog er sein weißes Hemd an und schlüpfte in die Anzugsjacke. Noch ein Mantel darüber, und er sah aus wie ein Geschäftsmann. Ein Mann von Welt.
Den Brief und seine Geldbörse im Mantel verstaut, Regenschirm in der Rechten, verließ er das Haus und ging mit strammem Schritt in Richtung Bahnhof. Slim folgte auf dem Fuß.
Es war ein Weg von gut eineinhalb Stunden bis zu der Ortschaft, wo der Zug abfahren würde.
Sie durchquerten den Wald und liefen über karge Felder und vertrieben sich die Zeit mit Stöckchenwerfen.
Irgendwann hatte es zu regnen begonnen. Da hatte Charlie seinen Schirm aufgespannt. Slim aber wurde nass wie ein Fuchs.
- 2 -
Der Bahnhof war ein großes, schmuckloses Gebäude. Ein viereckiger Kasten mit einem Eingang vorn und einem Ausgang hinten. Dort waren die Gleise.
Charlie und Slim betraten die hohe Halle. Eine Uhr an der gegenüberliegenden Wand zeigte ihnen, dass sie noch eine halbe Stunde hatten bis ihr Zug abfuhr.
Charlie sah sich um. Seit Jahren war er nicht mehr in einem Bahnhof gewesen. Die gekachelten Wände hinterließen einen sterilen Eindruck. Kalt und nackt. Bis auf einige wenige Glaskästen mit Fahrplänen darin. Auf einen der Glaskästen hatte wer in großen Lettern „Alfons liebt Sarah P.“ geschrieben. Quer über eine Sitzreihe in der Mitte der Halle schlief ein zerzauster kleiner Mann.
Slim rümpfte die Nase. In einer Ecke hatte jemand wohl vor kurzem sein Wasser abgeschlagen. Slim wäre nur zu gerne dorthin und hätte sein Bein darüber gehoben. Aber das gehört sich nicht für einen Hund.
Um eine Fahrkarte zu lösen, mussten sie einen Automaten bedienen. Personal hierfür gab es nicht. Unbeholfen tippte Charlie auf dem Bildschirm des Automaten herum und versuchte, dem sich dort selbst erklärenden Menü zu folgen. 20 Minuten bis zur Abfahrt des Zuges. Muss ich für Slim auch eine Fahrkarte lösen?
Charlie bemerkte eine Frau, die nervös hinter ihm in der Schlange stand. Weitere drei Personen warteten hinter ihr.
„Entschuldigen Sie, mein Zug fährt in 4 Minuten. Dauert es noch lange?“
„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete Charlie, „Ich weiß nicht genau, was ich hier tun muss!“
Früher, da bin ich an den Fahrkartenschalter, und der oder die Angestellte dort hat mir einen Fahrschein verkauft. Das ging ratzfatz, dachte er.
Nachdem die Frau ihre Fahrkarte am Automaten gekauft hatte, lief sie eilends zum Bahnsteig. Und Charlie versuchte sich erneut. 10 Minuten bis zur Abfahrt des Zuges.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte eine Stimme über seine Schulter hinweg.
„Mein Hund und ich möchten nur mit dem Zug in die Stadt fahren“, sagte Charlie.
9 ½ Minuten später standen sie am Gleis und warteten, von all der Aufregung zitternd, eine Fahrkarte in der Hand, auf den einfahrenden Regionalzug. Da vernahmen sie eine Laut-sprecherdurchsage:
„Achtung, Reisende an Gleis 3. Der Regionalzug 2654 nach Schönstadt hat 26 Minuten Verspätung.“
Unmittelbar darauf wehte ein eiskalter Wind über den Bahnsteig.
Mehrere Dutzend Menschen wollten an diesem Tag mit dem Zug in die Stadt fahren und warteten auf die Ankunft des verspäteten Zuges. Endlich rollte eine Lokomotive mit insgesamt 4 Waggons in den Bahnhof ein. Da die ersten beiden bereits voll besetzt waren, drängten die Bahnsteigmenschen in die hinteren beiden leeren Wagen. Kaum hatten Slim und Charlie einen Sitzplatz, und kaum hatte Charlie seinen Mantel ausgezogen, um es sich bequem zu machen, vernahmen sie abermals eine Lautsprecherdurchsage: „Achtung, Reisende im Regionalzug 2654. Die hinteren beiden Wagen haben hier Endstation. Wir bitten, in die vorderen umzusteigen.“
Dem sich anschließenden Durcheinander folgte ein Hineinzwängen in die bereits voll besetzten ersten beiden Waggons. Sämtliche Plätze in Gängen und Fluren waren von bedrängt stehenden Fahrgästen belegt.
Charlie und Slim standen, in eine Ecke gequetscht, mit dem Rücken zur Waggontür. Fehlen bloß noch ein paar Ziegen und Hühner, dachte Charlie, während er versuchte, den Geruch des Betrunkenen neben sich zu ignorieren. Slim winselte und blickte betreten drein. Und alle anderen Fahrgäste drum herum taten es ihm gleich.
Irgendwann war der Regionalzug 2654 in Schönstadt angekommen. Charlie und Slim und mehrere Dutzend andere waren sehr froh darüber. Und ein glücklicher Strom von Reisenden ergoss sich über den Bahnsteig des Hauptbahnhofes.
- 3 -
Zwischen all dem Straßenlärm und Niederschlag, Matsch und eisigem Wind ging unter seinen Schirm gebeugt ein einsamer Mann. Das Revers seines Mantels war hochgeschlagen, ein Schal eng um seinen Hals geschlungen. In seinem Windschatten ein struppiger Hund.
Charlie und Slim durchkreuzten die Stadt. Lange war Charlie schon nicht mehr hier gewesen. Viel hatte sich verändert.
Charlie sah Passanten, die mit kleinen Knöpfen am Ohr wild gestikulierend offenbar Selbstgespräche führten, Autos kaum größer als ein Überseekoffer nahmen teil am Straßenverkehr. Aus einigen Ladenlokalen quoll seltsame Musik, quietschend und dumpf. Spielhöllen und Wettbüros gab es an jeder Ecke. Und überall war ziemlich viel los.
Charlie hatte sich etwas vorgenommen. Er wollte sich einen lange gehegten Wunsch erfüllen. Er betrat ein großes Geschäft, in dem man Musik einkaufen konnte und sprach zu dem Verkäufer:
„Ich möchte gerne eine Schallplatte von Frank Sinatra kaufen.“
„Wir haben gerade eine wunderschöne Greatest Hits Cd im Angebot.“
„Ich möchte gerne eine Schallplatte. Ich besitze kein Gerät, welches so eine Cd abspielen kann.“
„Schallplatten führen wir hier nicht“, sagte der Verkäufer, „Vielleicht können Sie im Internet noch eine finden.“
„Im Internet?“, sagte Charlie, „Ist das ein Laden hier in der Stadt?“
„Sozusagen.“, sagte der Verkäufer.
Charlie und Slim verließen das große Geschäft und gingen eine überdachte Fußgängerzone entlang. Da hätte ich ja meinen Regenschirm getrost daheim lassen können, lächelte Charlie.
Rechts und links lockte eine bunte Vielzahl von Ladenlokalen: Bekleidung, Parfum, Kebab Geschäfte (Was immer das auch war?!), Schuhläden, so genannte Präsentshops, Pralineninseln, Bratwurstbuden. Doch wie er sich auch bemühte, diesen Schallplattenladen Internet konnte Charlie nirgends entdecken.
Von irgendwo drang der Duft frischer Backwaren auf ihn ein und ließ ihm das Wasser im Mund zusammen laufen. Wie an einem Faden gezogen, hielt er auf eine Bäckerei zu. Er trat ein, kaufte mit hungrigen Augen eine Apfel-Zimt-Schnecke. Und schon bevor er den Laden wieder verlassen hatte, biss er gierig hinein.
Nahezu überall war es laut und hektisch. Menschen mit prallen Einkaufstüten rannten an ihnen vorbei, quetschten sich rücksichtslos durch das Gedränge. Einmal wurde Charlie von einer dicken Frau fast umgerempelt.
Irgendwo alberte eine Gruppe von Jugendlichen herum. Einer von denen rotzte Charlie direkt vor die Füße und zog provozierend an einer Zigarette.
„Ach, ist der süß!“, rief eines der Schulmädchen mit Blick auf Slim. Dieser hatte längst den Schwanz eingezogen und schlich geduckt neben Charlie her.
Wo sind wir hier bloß hin geraten? dachte Charlie. Und Slim hatte zum ersten Mal in seinem Hundeleben keine Lust, Revier zu markieren.
- 4 -
Das Büro der Anwältin war in einem sehr hohen Haus untergebracht. Und Charlie musste den Kopf ganz schön in den Nacken legen, um bis ganz nach oben blicken zu können. Als er die Eingangstür aufschob, die einiges an Gewicht mit sich brachte, und die beeindruckende Eingangshalle betrat, war ihm, als betrete er eine andere Welt.
Sie standen auf einem Fußboden aus marmorähnlichen Fliesen. Oder war das echter Marmor?! Die Wände waren verkleidet mit riesigen schwarzen Platten, welche so blank poliert waren, dass Charlie und Slim sich darin spiegelten.
Ringsherum herrschte eine hektische Betriebsamkeit. Menschen liefen kreuz und quer durch einander. Rollwagen voll gepackt mit Ringordnern wurden hin und her gefahren. Arme trugen Berge von Aktenmaterial.
Die Dame an der Anmeldung verlangte nach dem Ladungsschreiben und Charlies Personal-ausweis. Argwöhnisch schaute sie auf Slim und rümpfte die Nase.
„Der Hund kann aber nicht mit zur Testamentseröffnung!“
„Doch, das kann er.“, brummte Charlie.
„Aber…“, setzte die Dame an.
Doch Charlie und Slim waren schon unterwegs zu den Aufzügen.
Das Büro der Anwältin lag im 16. Stockwerk, am Ende eines langen Ganges. Charlie und Slim trotteten gerade darauf zu, als eine winzige Stimme zu ihnen sprach:
„Onkel Karl?!“
Charlie verhielt im Schritt. Es war lange her, dass jemand ihn bei seinem richtigen Namen gerufen hatte. Er drehte sich um.
Aus der kleinen Karen war mittlerweile eine junge Dame geworden. Sie mochte gut und gerne achtzehn oder neunzehn Jahre alt sein. Viele Jahre hatte er das Mädchen nicht mehr gesehen, nachdem sich die Brüder wegen eines handfesten Streits verworfen hatten. In Charlies Erinnerung spielte sie noch immer mit Puppen und baute kleine Burgen aus Sand.
„Ach, Onkel Karl. Es ist schön, Dich zu sehen.“, sprach Karen. Slim wedelte angetan mit der Rute.
Charlie reichte ihr die Hand.
„Schade, dass Du nicht zur Beisetzung kommen konntest. Es war eine sehr schöne Zeremonie.“
Karen hatte seit ihrer Kindheit bei Charlies Bruder Hans und dessen Frau Alice gelebt, nachdem ihre Eltern beide sehr früh verstorben waren. Alice war Karens Patentante gewesen. Aber auch sie starb nur eine handvoll Jahre später. Seither hatten Hans und Karen allein in dem geräumigen Stadthaus gewohnt. Hans war seiner Lehramtstätigkeit nachgegangen, während Karen zur Schule ging. Haushaltsdinge erledigten sie gemeinsam.
Nun war auch Hans vor ein paar Wochen gestorben. Und Karen stand allein.
„Testamentseröffnung in Sachen Hans Oberringer“, die Tür zum Büro der Anwältin war geöffnet worden. Karen, Charlie und Slim traten ein.
„Ihr Bruder Hans ist verstorben ohne ein Testament zu hinterlassen“, eröffnete die Anwältin, „daher tritt die gesetzliche Erbfolge in Kraft. Das bedeutet, dass Sie, Herr Oberringer, als einziger noch lebender Verwandter Alleinerbe des Vermögens Ihres Bruders sind.“
„Und um was genau handelt es sich?“, fragte Charlie.
„Haus, Grundstück, Pkw, eine Lebensversicherung, Geldanlagen. Ein Gesamtwert in Höhe von rund 380 Tausend Euro.“
Charlie erhob sich. Er ging zum Fenster und sah hinaus auf die Stadt. Sein Blick rollte durch die Straßen, erfasste die vielen Menschen, die sich dort hindurch zwängten, die vielen Autos, die Abgase.
Durch das geschlossene Fenster konnte er die Stadt hören: Bremsenquietschen, Hupen, Sirenen und all der andere Lärm, der von ihr ausging.
Er wandte ihr den Rücken zu, sah hinüber zu der Anwältin. Langsam drehte er den Kopf zu Karen, die ihn mit unbewegter Miene anschaute. Dann zurück zu der Anwältin:
„Ich nehme das Erbe meines Bruders Hans nicht an. Zugunsten von Karen. Sie soll es bekommen.“
Charlie nahm Karens rechte Hand in beiden Hände, blickte ihr fest in die Augen. Dann nickte er der Anwältin zu und wandte sich zur Tür.
„Ich habe alles, was ich brauche“, sagte er beim Hinausgehen. Alles, außer einer Schallplatte von Frank Sinatra, aber dachte er bei sich.
Dann verließen die beiden Freunde Slim und Charlie das Bürogebäude, die große Stadt und die Menschen, die darin zu leben scheinen…>>

Ach, übrigens, die Sonne scheint doch - leicht verschleiert durch Nebel-Voile.